Reformation und Gesellschaft

Im Jahr 1414 reiste ein Theologe zum Konzil nach Konstanz, der seine Kirche auf Basis der Bibel reformieren wollte. Trotz freien Geleits kam er in Haft. Da er bis zuletzt jeden Widerruf verweigerte, wurde er 1415  als Ketzer verbrannt. Sein Name: Jan Hus.

107 Jahre später machte sich wieder ein Theologe auf, um die weltlichen und geistlichen Reichsstände in Worms zur Abschaffung von Missständen und zur Umkehr zur Bibel aufzurufen – Martin Luther. Auch er wurde zum Widerruf aufgefordert, den er mit den berühmt gewordenen Worten ablehnte:
„Ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“
Das ihm zugesicherte freie Geleit wurde diesmal eingehalten. Auf der Rückreise vom Reichstag nahm ihn sein Landesherr Friedrich der Weise heimlich in Gewahrsam und schützte ihn so vor der verhängten Reichsacht (Fried- und Rechtloserklärung).

Anders als bei Jan Hus und vor ihm noch anderen kirchlichen Reformationsbewegungen wie den Katharern und den Waldensern (ab 12. Jh.) war es nun nicht mehr einfach möglich, den Abweichler und seine Anhänger mit der Inquisition zu verfolgen und sie möglichst auszulöschen. Was hatte sich in den reichlich hundert Jahren seit 1415 in Europa verändert?
Während das Konstanzer Konzil zeit- und geistesgeschichtlich noch im Mittelalter stattfand, gehört die Reformation Luthers zum Beginn der Neuzeit  - einer völlig neuen Epoche Europas. Nach der Frühgeschichte, dem Altertum (Mitte 4. Jahrtausend bis 5. Jh.) und dem Mittelalter (6. Jh. bis 15. Jh.) brach nun ein anderes Zeitalter an, das bis heute andauert. Die zeitliche Abgrenzung wird zwar noch diskutiert, aber folgende wichtige Daten gehören sicherlich dazu:

  • die osmanische Eroberung Konstantinopels (des ehemaligen Ost-Roms) 1453, die viele Gelehrte nach Italien flüchten und damit den Humanismus aufblühen ließ;
  • die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg um 1450, eine Revolution bei der Verbreitung von Informationen;
  • die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus 1492, die das europäische  Weltbild beträchtlich erweiterte. Dazu kam ab dem 15. Jh. die Geistesbewegung der Renaissance, die von humanistischer Bildung außerhalb eines religiösen Zusammenhangs geprägt war, die Individualität des Menschen neu entdeckte und damit das Deutungsmonopol der Kirche in Frage stellte. Zugleich geriet das herrschende Feudalsystem u.a. durch die Einführung des römischen Rechts in eine tiefe Krise. Im 16. Jahrhundert folgte dann der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften mit dem neuen heliozentrischen Weltbild (die Kugelgestalt der Erde war dagegen schon seit dem Altertum bekannt), der Loslösung der Empirie (des Experiments!) von der Tradition und anderen wichtigen Umwälzungen.

Die Reformation war also beileibe nicht das zentrale Ereignis dieser Epoche, leistete aber wichtige Beiträge zur Ausgestaltung der Neuzeit. Stellvertretend für sie sollen drei Punkte herausgegriffen werden:

  1. Die Emanzipation des Staates von der Kirche
    Das Verhältnis von Staat und Kirche war immer problematisch. Neben dem Machtanspruch der katholischen Kirche auf alle weltlichen Mächte gab es die geistlichen Herrschaften, in denen Bischöfe u.a. selbst weltlich agierten. Die Reformation stutzte die Machtansprüche Roms, säkularisierte die kirchlichen Besitztümer in ihrem Bereich und teilte sie den weltlichen Herrschern zu. Diese Möglichkeit motivierte viele Herrscher und reichsfreie Städte, die Reformation zu unterstützen. Daraus entwickelte sich das  Landesherrentum, später die Trennung von Staat und Kirche.
  2. Die Bildung
    Durch die Säkularisierung wurden die mittelalterlichen Bildungsstrukturen (vor allem Klosterschulen) zerstört. Die damit einhergehende starke Reduzierung der geistlichen Berufe nahm vielen Eltern die Motivation, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Luther bemühte sich, neue Schulformen und –begründungen zu finden: So betonte er das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, das gebildete, des Lesens und Schreibens kundige Christen nötig habe. Außerdem reagierte er damit auf den schwärmerischen, bildungsfeindlichen Flügel der Reformation mit dessen Betonung der Unmittelbarkeit des Geistes. Er öffnete die Standesschranken und ermöglichte die Schulbildung auch für Mädchen. Schulen sollten weder von der Kirche noch vom Landesherrn, sondern von den Kommunen betrieben werden.
  3. Die Gewissensfreiheit
    Das reformatorische Grundprinzip „sola scriptura“ („allein die Schrift“) sowie die Betonung Christi als „Mitte der Schrift“ ermöglichten eine Trennung vom kirchlichen Lehramt und den kritischen Umgang mit Entscheidungen und Lehren der Kirche und des Staates. Damit erhielt die humanistische Aufwertung des Gewissens eine christliche Begründung. Die Möglichkeit unterschiedlicher Gewissensentscheidungen bereitete den Nährboden für die spätere Aufklärung und ihre Forderung nach Toleranz. Seither hat jeder Christ das Recht, sich von seinem Gewissen leiten zu lassen und jedem Machtanspruch kirchlicher und staatlicher Organe zu widerstehen. Alles darf vor dem Hintergrund der Bibel hinterfragt werden, nichts muss mehr blind geglaubt werden oder ist alternativlos.


        Michael Krug
        Pfarrer in Forchheim St. Johannis