Neuer Schwung für den Gottesdienst

Martin Luther machte den Gottesdienst zum Motor der reformatorischen Bewegung. Wie kann der Gottesdienst heute wieder zum Mittelpunkt einer zeit- und evangeliumsgemäßen Kirche werden?

Die Zahlen sind alarmierend: Von 2004 bis 2014 ging die Zahl der Gottesdienstbesucher innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland um rund 25 % zurück. Im Jahr 2016 besuchten im Durchschnitt nur noch 3,5 % der deutschen Protestanten den sonntäglichen Hauptgottesdienst. Ohne neue Aufbrüche wird sich dieser Trend fortsetzen. Ist doch die überwiegende Mehrzahl der BesucherInnen älter als 60 Jahre. Da lohnt ein Blick in die Reformationszeit, in der der Gottesdienst neu gestaltet und mit Leben gefüllt wurde.

Gottes Gnade kann man sich nicht verdienen.

Der kritische Blick auf die Gottesdienstkultur seiner Zeit versetzte den jungen Mönch Martin Luther in Rage. Luther hatte durch intensives Bibelstudium erkannt, dass Gottes Gnade dem Glaubenden geschenkt wird. Umso mehr schmerzte ihn, wie sehr die mittelalterliche Messe vom Verdienstgedanken durchdrungen war. Der Gottesdienst war zu einem „guten Werk“ verkommen. Die Menschen meinten, mit dem Gottesdienst ein Opfer bringen und für ihre Sünden Sühne leisten zu können.
Aus dieser „Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ (so der Titel einer Lutherschrift aus dem Jahr 1520) musste auch der Gottesdienst befreit werden. Alles, was den Anschein erwecken könnte, der Mensch würde sich Gottes Gnade verdienen, war nach Luthers Ansicht aus dem Ablauf des Gottesdienstes zu entfernen. Das galt für einzelne Elemente wie die Opfertheologie beim Abendmahl genauso wie für den Gottesdienst als ganzen: Luther verwahrte sich gegen die Möglichkeit, Seelenmessen für Verstorbene zu lesen oder in „Winkelmessen“ ohne Gemeindebeteiligung irgendwelche Heilige zur Fürsprache vor Gott anzurufen.

Die Predigt rückt in den Mittelpunkt.

Stattdessen rückte Luther die Predigt, die bisher eine untergeordnete und vorbereitende Funktion hatte, ins Zentrum und stellte sie in ihrer Bedeutung dem Abendmahl gleich: die Predigt war gleichsam Gottes lebendiges Wort, die „viva vox evangelii“. Durch die Predigt sollte den Menschen Gottes gnädiges Wirken und das durch Jesus Christus erwirkte Heil ins Herz geschrieben werden. Als Prediger legte Martin Luther selber mit Leidenschaft und schöpferischer Sprachgewalt die Heilige Schrift aus und verkündete in immer neuen Bildern die frohe Botschaft von der freimachenden Gnade Gottes. Durch die Predigt – davon war Luther überzeugt – spricht Gott selbst zu den Menschen, sein Heiliger Geist wirkt „wo und wann er will“ den rechten Glauben an Jesus Christus.
Luther predigte mehrmals in der Woche, auf Reisen zumeist täglich. Die Menschen strömten in Massen zu ihm. Seine Predigten wurden begeistert gehört, mitgeschrieben, gesammelt und als Luthers „Hauspostillen“ veröffentlicht (1521). Jahrhundertelang schulten sich lutherische Pfarrer in Deutschland und Skandinavien an Luthers Predigten. Architektonisch fand Luthers Gleichstellung und Zuordnung von Predigt und Abendmahl Ausdruck im typisch evangelischen Kanzelaltar (siehe Titelbild).

Zum Gottesdienst gehört die aktiv mitwirkende Gemeinde.

Neben der Predigt gab Luther der feiernden Gemeinde eine neue Bedeutung. Für ihn war Kirche nichts mehr und nichts weniger als die sich um Wort und Sakrament sammelnde Gemeinde. Priester und Klerus verloren ihre Sonderstellung – augenfällig in der Abschaffung der bunten und kostbaren Messgewänder. Alle Gläubigen waren grundsätzlich „Priester“ und aufgerufen, die frohe Botschaft zu verkünden. Das neue Selbstbewusstsein der Gemeinde fand Ausdruck in der Abendmahlsfeier unter beiderlei Gestalt und im Gesang. Allein 1524 dichtete Martin Luther 24 deutsche Lieder für den Gemeindegesang im Gottesdienst und schuf damit die Basis für die evangelische Kirchenmusik. Im Lobpreis, im Singen, konnte die Gemeinde voller Dankbarkeit auf Gottes gnädiges Wirken antworten.
1526 erschien Luthers Entwurf der „Deutschen Messe“. Der Gottesdienst in deutscher Sprache mit der Predigt im Zentrum und mit der aktiven Beteiligung der Gemeinde wurde zum Erfolgsmodell, das sich in Windeseile in weiten Bereichen Europas verbreitete. Eine einheitliche Gottesdienstordnung für den evangelischen Gottesdienst konnte sich nicht durchsetzen. Dafür war die kleinteilige Struktur der späteren evangelischen Landeskirchen ungünstig. Zudem hatten die schweizerischen und oberdeutschen Reformatoren einen alternativen schlichten Gottesdiensttyp geformt, der dem mittelalterlichen Predigtgottesdienst entwachsen war.

Der Gottesdienstbesuch ist ein großartiges Angebot Gottes.

In Wittenberg musste der gefeierte Reformator und Prediger Martin Luther auch eine bittere Erfahrung machen: die Menschen gewöhnten sich an die evangelische Freiheit und blieben den Gottesdiensten mehr und mehr fern. Inzwischen kannte ja jedes Kind den gnädigen Gott, der aus Liebe allen verzeiht. Diese Entwicklung traf Luther schwer. Sein Landesfürst bot ihm an, die Gemeinde zu „disziplinieren“. Doch trotz leerer werdender Kirchen lehnte Luther jeden Zwang zum Gottesdienstbesuch ab.
Als Erben der Reformation stehen auch wir vor der großen Herausforderung, Menschen werbend für den Gottesdienst zu gewinnen. Es gilt, Menschen davon zu überzeugen, welche tiefe und bereichernde Bedeutung der Gottesdienst für ihr Leben, für ihren Alltag haben kann. Im Gottesdienst hören Menschen nicht nur die lebendige und lebensschaffende Stimme des Evangeliums. Menschen erfahren ganz persönlich, wie Gott sie in Liebe ansieht und anspricht. Und Menschen sind eingeladen, im Gottesdienst aktiv mitzuwirken: im Lied, im Gebet, beim Abendmahl, in der Verkündigung oder in der Gestaltung.
Enno Weidt, Pfarrer in Forchheim St. Johannis