Allein die Bibel - Türoffner zum gnädigen Gott

Es läutet an der Tür des Pfarrhauses. Eine Familie kommt zum Taufgespräch. Fragend und unsicher schauen mich Mutter, Vater und Pate an. Als sie das Pfarrhaus betreten, spüre ich: Sie betreten einen Raum, der für sie fremd ist.

Das Taufgespräch beginnt zögerlich. Als ich nach einen Taufspruch für ihren Sohn frage,  kommt prompt die Antwort: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
Auf einmal wird das Gespräch lebendig. Der Vater berichtet, dass ihn dieser Spruch seit seiner Konfirmation begleitet. Die Mutter erzählt, wie ihr dieses Wort während ihrer komplizierten Schwangerschaft Halt gab. Mir wird deutlich: dieses Bibelwort ist für diese Familie eine Tür zum Glauben - zu einer Welt, die ihr ansonsten fremd geworden ist.

Auch Martin Luther war auf der Suche nach einer Tür, nach einem Weg zu einem gnädigen Gott. Er hatte sein Jurastudium deshalb an den Nagel gehängt und war Mönch geworden. Doch fand er auch in dem „heiligen“ Leben hinter Klostermauern keine Ruhe für seine aufgewühlte Seele. Er studierte die Bibel, immer und immer wieder. Schließlich stieß er auf einen Vers aus dem Römerbrief, der ihm die lang ersehnte Tür zu einem gnädigen Gott öffnete.
In diesem sog. „Turmerlebnis“ hatte Luther erfahren, dass der gnädige Gott durch die Bibel zu ihm gesprochen und ihn von seinen fürchterlichen Ängsten befreit hatte. Dieses persönliche Erlebnis sollte zum Kern der Reform der ganzen Christenheit werden.

Die Reform der Kirche, die Luther im folgenden mit allen Kräften anstrebte, war eine Rückkehr zu den biblischen Quellen. Laut dem humanistischen Wahlspruch „Ad fontes“ befreite er die Bibel von dem Wust der Traditionen, die sich in  vielen Jahrhunderten angesammelt hatten und das biblische Zeugnis verdunkelten. Luthers Ziel war es, dass alle Menschen das Wort der Bibel unmittelbar hören konnten. 

Dazu mussten die Menschen zum einen in die Lage versetzt werden, selber die Bibel zu lesen. Von hier erklärt sich die große Dynamik, mit der die Reformation die Bildung des ganzen Volkes vorantrieb.
Zum andern musste die Bibel lesbar und verständlich werden. Schon lange vor Luther hatten Gelehrte begonnen, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Zur Zeit Luthers gab es eine unüberschaubare Anzahl von Übersetzungen der Bibel und einzelner Teile, die aber allesamt schlecht und unbrauchbar waren. So klang Psalm 23,1 in einer Übersetzung vom Ende des 15. Jahrhunderts bereits damals antiquiert:
„Der Herr der richt mich
und mir gebrast nit.“
Für Luther war die Notwendigkeit einer kompletten, sprachlich ansprechenden und verständlichen deutschen Bibelübersetzung evident.

Als Luther 1521 nach dem Reichstag zu Worms von seinem Landesfürsten Friedrich dem Weisen zum Schutz auf die Wartburg gebracht wurde, fand er die nötige Muße: in wenigen Wochen übersetzte er allein das Neue Testament. 1522 wurde das „Septembertestament“ gedruckt - und ein Riesenerfolg. Innerhalb eines Jahres erlebte es rund ein Dutzend Nachdrucke.
Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg machte sich Luther an die Arbeit, auch das Alte Testament zu übersetzen. Dieses Mal stand ihm ein ganzes Kollegium von Wissenschaftlern zur Seite. Das wesentlich umfangreichere AT erschien in Etappen. Erst 1534 konnte eine Gesamtausgabe der Bibel  herausgegeben werden.
Die Wirkungsgeschichte der „Lutherbibel“ ist in mehrfacher Hinsicht epochal. Luther hatte den „Leuten auf‘s Maul geschaut.“ Mit genialer Ausdrucksfähigkeit und sprachlicher Kreativität trug er wesentlich zum Entstehen der deutschen Schriftsprache bei. Zahlreiche Wortschöpfungen sind in unsere Alltagssprache eingegangen, wie „das Herz ausschütten“ oder „sich den Staub von den Füßen schütteln“. Kulturell prägte die Lutherbibel nicht nur den deutschen Sprachraum, sondern wirkte weit darüber hinaus auch nach Skandinavien und Osteuropa.

Die Lutherbibel erfüllt aber v.a. den Zweck, für den sie gedacht war. Sie wurde gelesen! Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts waren von der Lutherbibel mehr als eine halbe Million Exemplare gedruckt worden. Generationen von Kindern lernten in den folgenden Jahrhunderten das Lesen mithilfe der Lutherbibel.
Damit erschloss sich den zahllosen Lesern die Bibel mit einem spezifisch protestantischen Profil. Luther hatte z. B. bei Röm 3,28 das Wort „allein“ ergänzt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird … allein durch den Glauben“.  Das wichtigste Ziel Martin Luthers erfüllt seine Bibelübersetzung bis heute: selbst da, wo Menschen die Bibel nicht mehr zur Hand nehmen, werden ihnen Worte aus der Heiligen Schrift zu Türöffnern zum göttlichen Heil. Am 30. Oktober 2016 wurde feierlich die neue revidierte Lutherbibel in der Georgenkirche zu Eisenach eingeführt. In ihr begegnen uns nach wie vor die vertrauten Worte,
z. B. des Psalm 23:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
 
Enno Weidt, Pfarrer in Forchheim St. Johannis